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2021 jährt sich die Reichsgründung zum 150. Mal, jedoch möchte sich kaum jemand daran erinnern. Dies ist das Resultat einer längeren Entwicklung: Das vielleicht bedeutendste Zeichen nach 1990, mit dem man sich zu der Gründung von 1871 bekannte, war der Umzug der Regierung nach Berlin, denn dieser symbolisierte die Kontinuität der preußisch-deutschen Hauptstadt, obwohl es in der Historie davor durchaus andere deutsche Hauptstädte gegeben hat. Es ist bezeichnend, daß dieser nur mit einer sehr knappen Mehrheit zustande kam, bei dem die Stimmen der PDS den Ausschlag gaben. Die heutige Weigerung des offiziellen Berlins, des Ereignisses zu gedenken, stellt jedoch einen vorläufigen Höhepunkt dar.


Wie sehr das Kaiserreich in Berlin noch präsent ist, zeigt dieser wunderbare Bildband: Von offiziellen Regierungsgebäuden, Bildungsanstalten, Krankenhäusern, Industriearchitektur, Wohngebäude, Sakralbauten oder Freizeitstätten u.a.m. hat er die faszinierende Vielfalt der Kaiserzeitepoche eingefangen. Die farbigen Abbildungen ergänzt ein sehr gut recherchierter und leicht lesbarer Begleittext, der eine Fülle an Hintergrundinformationen bietet. Autor: Matthias Barth, Berlin der Kaiserzeit  Architektur 1871 bis 1918, Gebund. Ausgabe, 336 Seiten; Michael Imhof Verlag,ISBN-10: 3731907194

Die Entfremdung besteht in der Tat schon länger, nicht nur in der Politik: Die heute älteren Menschen im Westteil Deutschlands haben die deutsch-französische Aussöhnung erlebt. Sie waren meist eher in Paris, in der Normandie oder der Provence als in Potsdam, Dresden oder Schwerin. Wenn man sie fragt, bekommt man zu hören, daß Deutschland den Franzosen 1871 das Elsaß weggeschnappt hat und damit die deutsch-französische Erbfeindschaft begründete. Einige wenige können vielleicht noch Napoleon nennen, jedoch beendete die Reichsgründung in Wirklichkeit die ständigen Einfälle Frankreichs in deutschen Ländern seit dem Mittelalter und auch der Umstand, daß 1870 80 % der Elsässer Deutsch sprachen, ist nicht der Tatsache geschuldet, daß Deutsch die leichtere oder schönere Sprache ist, sondern weil das Land vorher von Frankreich annektiert wurde. Wir sollen uns hier nicht falsch verstehen: Auch Frankreich hat vor allem im 20. Jahrhundert viel unter den Deutschen gelitten und die deutsch-französische Verständigung ist sicher einer der größten Erfolge der Bundesrepublik. Trotzdem sollte man aber an Stelle eines Narrativs bei den historischen Fakten bleiben und da ist es nun einmal so, daß die Reichseinigung Deutschland endlich wieder ermöglichte, sich ernsthaft gegen äußere Feinde zur Wehr zu setzen, was unseren Vorfahren sehr viel bedeutete.

Im Osten Deutschlands wiederum würde man sich zwar in einem Hohenzollernreich wahrscheinlich nicht unwohl fühlen. Bei einem Anteil von 20 % an der Gesamtbevölkerung, dem ein Anteil von nur 1,5 % Ostdeutscher in Führungspositionen in Politik, Verwaltung und Wirtschaft gegenübersteht, herrscht jedoch auch dort zunehmend weniger Feierlaune beim Gedanken an Gesamtdeutschland, welches dem alten Preußenkönig Wilhelm schon bei seiner Gründung wenig Freude bereitete. Das Gefühl westdeutscher Fremdherrschaft ist heute eher stärker als vor 30 Jahren und man fragt sich, ob mit Preußen, Sachsen, Anhalt, Mecklenburg und den thüringischen Provinzen allein nicht auch Staat zu machen gewesen wäre, nach dem man den Sozialismus zum Teufel gejagt hat, läßt dabei aber die massiven wirtschaftlichen Verwerfungen aus den Augen, die dies mit sich gebracht hätte.

Zurück zur Politik: Von den fünf in Artikel 20 der gegenwärtigen Verfassung genannten Prinzipien des deutschen Staates – Föderalismus, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Republik und Sozialstaatlichkeit – kommen mindestens drei aus dem Kaiserreich, und auch das Demokratieprinzip war damals im Vergleich zu den meisten Nachbarn mit den freien, geheimen und gleichen Wahlen zum Reichstag durchaus nicht schlecht umgesetzt, während das Republikprinzip ohnehin unnatürlich ist und weg sollte. Auch die Rechtschreibung, die Grundlage der Pharma- und Autoindustrie, die verfaßte Wirtschaft, die Grundlagen für den Wissenschaftsstandort Deutschland und sogar die Gewerkschaften kommen aus dem Kaiserreich. Der Politik ist dies eher peinlich, da die Staatslenker der beiden ehemaligen Volksparteien CDU und SPD lieber hätten, daß die Bewohner des besten jemals existiert habenden Deutschlands denken, selbige Parteien wären es gewesen, die diese Errungenschaften herbeigeführt haben. Für den, der sich auskennt, hat dies jedoch keinen Bestand. So ist zwar zum Beispiel die ausformulierte Definition der „sozialen Marktwirtschaft“ eine Erfindung der Bundesrepublik, jedoch wird hier nur ein Begriff nachträglich konzeptualisiert, der im Kaiserreich schon gelebt wurde. Auch der Nationalstaat ist Politikern eher suspekt. Viele Eliten wollen auch aus wirklicher Überzeugung, daß Deutschland in der EU aufgeht (eine Idee, die allerdings von den Nachbarn nicht geteilt wird). Deutschland ist für diese Parteieliten nur eine Verwaltungseinheit, welche nur insoweit Sinn macht, als deren Führungspositionen nach Parteibuch vergeben werden können.

Es finden sich also weder im Volk noch in der Politik wirklich viele, die der Reichseinigung von 1871 unter Wilhelm I. noch etwas Positives abgewinnen können. Vielleicht würde es helfen, sich einmal vorzustellen, wie es ohne die Proklamation Wilhelms I. zum Deutschen Kaiser ausgesehen hätte. Die Phantasten von 1848 hätten vielleicht einen noch freiheitlicheren, aber weit schwächeren Staat geschaffen, der zur Beute seiner Nachbarn geworden wäre, ganz ohne Einheit und bei Beibehalt der Kleinstaaterei wäre dagegen nie das Niveau an Wohlstand und Entwicklung erreicht worden, welches erreicht worden ist. Es wäre die großdeutsche Lösung geblieben, jedoch hätten die Nachbarn dieses Gebildes wohl auch um die Kräftebalance gefürchtet und dieses nicht zugelassen, außerdem hätte Deutschland unter Führung der Habsburger auch die Probleme geerbt, die historisch zur Implosion von deren Reich geführt haben. Wilhelm I., Bismarck, Moltke und die Deutschen schufen also ein Reich, welches nicht von Anfang an eine Totgeburt war, und dies ist schon viel.

Für die Generation, die im Kaiserreich aufwuchs, jedoch die Folgezeit auch erlebte, war es die gute alte Zeit. Für uns ist es immer noch die Zeit, in der die meisten funktionierenden Grundlagen des deutschen Gemeinwesens gesetzt wurden, und das ist doch schon etwas, was man feiern kann.

L. R.